„Auf dem Weg zu Deeskalation und Frieden in der Ostukraine“ vom 13.-23.09.2015

Ein Projekt der West-Ost-Gesellschaft Tübingen in Zusammenarbeit mit Kulturamt der Stadt Leinfelden-Echterdingen.

Sachbericht

In unserem Projekt im Rahmen der deutsch-ukrainischen Jugendbegegnungen, gefördert durch die Stiftung EVZ, nahmen nicht nur deutsche und ukrainische, sondern auch russische Jugendliche teil. Geplant waren sechs Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus jedem der drei Länder. Die ukrainische Gruppe aus Poltawa hat leider auf eine TN verzichten müssen, da diese an Windpocken erkrankte (Krankmeldung liegt vor). Die russische Gruppe aus Petrozavodsk kam zunächst auch nur zu fünft – einer der TN hat sein Visum nicht rechtzeitig bekommen und so konnte er erst zwei Tage später dazu stoßen. Am Projekt nahmen von der deutschen Seite aus je drei TN aus Leinfelden-Echterdingen und Tübingen teil.

Die Bewilligung der beantragten Mittel kam am 28.07.2015. Unsere erste Aktion war der sofortige Kauf von Flugtickets, da wir die Frühbucher-Preise nützen wollten. Diese haben wir erreicht und freuten uns über den ersten Erfolg. Unmittelbar danach kam der große Schreck – die Jugendherberge Tübingen konnte uns die Unterkunft nur vom 13.-17.09. garantieren. Vom 17.-23.09. waren alle Plätze ausgebucht. Damit hat niemand von uns gerechnet. Nachdem auch alle Studentenunterkünfte, die in den Sommerferien eigentlich reichlich zur Verfügung stehen, belegt waren, forschten wir nach dem Grund. Und stellten fest, dass in Tübingen vom 17.-20.09. der Umbrisch-provenzalischer Markt stattfindet. Leichte Panik machte sich breit – es wurde klar, dass wir nirgendwo freie Zimmer bekommen. Aber – „Wunder geschehen“ – wie es Nena seit Langem weiß! Nach vielen nervenaufreibenden Telefonaten plötzlich die Erlösung: Die Stadtwerke Tübingen, die seit Jahren die Projekte der West-Ost-Gesellschaft unterstützend begleiten, stellten uns zwei leer stehende Dienstwohnungen zur Verfügung. Die Feldbetten für 11 Teilnehmer bekamen wir von der Freiwilligen Feuerwehr Leinfelden-Echterdingen, das komplette Bettzeug und Handtücher kamen von der Mitgliedschaft der West-Ost-Gesellschaft. Wir haben nur alles zusammentragen und aufbauen müssen. Es war viel Arbeit, hatte aber den Vorteil, dass wir die Unterkunft zum Nulltarif (!) bekamen. Da in den Wohnungen keine Küchen vorhanden waren, entstand ein neues Problem: wo werden die Teilnehmer Frühstücken? Auch hier hatten wir ein großes Glück: Heidi Orth, die Frau des Seminarleiters Michael Orth hat uns spontan ihre Räume im Studienkreis Tübingen dafür angeboten. Schnell hat sie einen Kühlschrank besorgt und installieren lassen, das Frühstückgeschirr kam aus den Beständen der West-Ost-Gesellschaft. Lilia und Peter Künstle haben die Lieferung von Lebensmitteln für das Frühstück gesichert – täglich frische Brötchen und Nachschub an Wurst, Käse, Jogurt, Butter, Eiern, Milch und anderen Leckereien. Lilia Künstle hat die komplette Mahlzeiten-Logistik für die Dauer des Projekts übernommen. Außerdem hat sie sich verpflichtet, die kontinuierliche und ordentliche Ablage der Ausgabe-Belege zu überwachen. Eine schwierige Aufgabe, die sie aber perfekt beherrscht. Dafür gehört ihr unser aller Dank!

Da wir die Nachricht bekamen, dass der ukrainische Teilnehmer Bohdan Sulaev Preisträger des Allukrainischen Wettbewerbs des Autorenliedes ist, musste eine Gitarre her. Diese bekam Alena Trenina in der Musikschule Leinfelden-Echterdingen für die ganze Dauer des Projekts geliehen.

Als wir in der Jugendherberge die Reservierung vom 13.- 17.09. eine Woche vor dem Termin storniert haben, wurde uns völlig überraschend auch noch die sonst übliche Stornogebühr von 50% des Gesamtpreises erlassen. Mit so viel Entgegenkommen macht jedes Projekt Spaß!

Einen Tag vor der Ankunft der Projektteilnehmerinnen und -Teilnehmer hat Frau Trenina in den Räumen des Studienkreises eine Begrüßungssuppe zubereitet – eine russische Gurkensuppe mit Lachs, die die TN nach ihrer langen Anreise (24 Stunden lang nur belegte Brötchen) wieder auf die Beine stellen sollte.

Nun wurde es Sonntag. Das Begrüßungskomitee – die Organisatorinnen Lilia Künstle und Alena Trenina und die Schülerinnen des Immanuel-Kant-Gymnasiums Leinfelden-Echterdingen Amandine Matthiesen, Marlene Hertel und Luisa Eckert – versammelte sich vor der Informationstafel für Flug-Ankünfte – und traute den eigenen Augen nicht: die Lufthansa hat an diesem Tag den Flughafen München bestreikt, die Kurzstreckenflüge wurden gestrichen, so auch den Flug München-Stuttgart, auf den unsere Kiew- und Helsinki-Passagiere umsteigen sollten. Die Lufthansa-Informationstheke war zwar besetzt, konnte aber keine Auskunft über den Verbleib der gestrandeten Passagiere geben. Es gab nur eine vage Vermutung, dass die Reisenden gegen 15 Uhr am Flughafen ankommen, sofern sie in den Bus eingestiegen sind. Sind sie es?

Um 15 Uhr haben wir unsere völlig übermüdeten Projektteilnehmerinnen und –Teilnehmer endlich in die Arme schließen können. Der Airportsprinter hat und dann rasch nach Tübingen gebracht. Die warme Suppe zu diesem Zeitpunkt war goldrichtig. Nach der Suppe konnten wir die Gäste noch zu einem kleinen Spaziergang durch die unmittelbare Umgebung motivieren. Aber danach war nur noch das Abendessen und ein warmes Bett das Ziel. Also gute Nacht und schlaft schön, morgen wollen wir uns auf den Weg zu Deeskalation und Frieden machen.

Montag, 14.09.2015

Da die TN am Vorabend den Weg von den Unterkünften zum Seminarort, der gleichzeitig auch Frühstücksort war, kennen gelernt haben, sind sie zum Frühstück ohne Begleitung mit dem Bus gekommen. Lilia Künstle hat zusammen mit den TN den Tisch gedeckt und das Frühstück zubereitet. Nach dem Frühstück haben die TN das Geschirr weggeräumt, gespült und abgetrocknet. Es wurde ein Frühstücksdienst für die weiteren Aufenthaltstage eingerichtet: die TN bildeten Zweierteams, die sich nacheinander täglich ums Tischdecken und -abräumen gekümmert haben. An diese Stelle muss ein großes Lob ausgesprochen werden: der Frühstückdient hat tadellos geklappt.

Nach dem Frühstück führte der Seminarleiter Michael Orth alle auf die Neckarinsel: In der dortigen Platanenallee startete der fachliche Teil des Projekts mit einer großen Vorstellungsrunde. Jeweils zwei TN, die zufällig nebeneinander standen, wurden zu einem Team erklärt, das zunächst 10 Minuten lang persönliche Informationen untereinander austauschte, um dann der großen Gruppe den jeweiligen Teampartner vorstellen zu können. Die Runde hat lange gedauert, war aber keineswegs langweilig. Die deutschen Teilnehmer waren vormittags leider noch nicht dabei – in Baden-Württemberg war heute der erste Schultag nach den Sommerferien, für die Schüler war es wichtig, die Schulpläne zu holen.

Danach fuhren wir mit dem Stadtbus zum Mittagessen. Dieses bekamen wir vom Montag bis Freitag in der Kantine der Stadtwerke Tübingen. Es gab täglich mehrere Hauptspeisen zur Auswahl, ein reiches Salatbuffet, Mineralwasser, Säfte, Kaffee, Cappuccino, Latte Macchiato, Tee, Kuchen, Obst – all inklusive nach dem Motto „alles was du essen kannst“ – zu einem Pauschalpreis von 5 € plus MwSt. pro Person/Tag.

Satt und zufrieden fuhren wir mit dem Stadtbus in die Bäckerei GEHR am anderen Ende der Stadt. Hier wurden wir von Geschäftsführer der Firma, Bäckermeister Albrecht Gehr und unseren deutschen Projektpartnern erwartet. Nach einer kurzen Vorstellung führte uns Herr Gehr in eine Minibäckerei, die speziell für Besucher eingerichtet wurde. Dort erzählte er uns die Geschichte der schwäbischen Brezel und zeigte uns, wie diese gemacht wird. So, wie er das machte, sah es ganz einfach aus. Nun kamen wir an die Reihe. Jeder TN bekam so viele Teigstücke, wie er wollte. Wir kneteten und rollten mit der Handflächen, wie uns gezeigt wurde. Dann formten wir die Brezel. Irgendwie hat uns das Gebäckstück an unser Projekt erinnert: die zwei Enden einer „Teigwurst“ wurden zunächst gekreuzt und verflochten, um anschließend zu einem Ganzen verbunden. Nach dem die Brezeln ausgebacken waren, dürften wir sie mit nachhause nehmen. Es war interessant, zu sehen, dass in Deutschland der Geschäftsführer eines Mittelständischen Unternehmens selbst mit anpackt. Die ganze Aktion wurde von Alena Trenina gedolmetscht, die Logistik sicherte Lilia Künstle. Nach dem gemeinsamen Abendessen in der „Krummen Brücke“ sind wir zu Fuß in die Unterkünfte gegangen.

Dienstag, 15.09.2015

Nach dem Frühstück hat sich unsere große, auffällige Gruppe (18 Jugendliche und 3 Erwachsene) mit dem Projekt-Banner auf den Weg gemacht: die Neckarinsel mit ihrer Platanenallee bietet viele Möglichkeiten, um zu beobachten, zu diskutieren und immer weiter zu gehen. Der Seminarleiter Michael Orth forderte uns auf, in unseren Rucksäcken nach den Dingen, die wir drinnen tragen, zu schauen. Es gab viele ähnliche Gegenstände, aber auch einige sehr individuelle. So kann man sich auch die Menschen, die sich auf einem Weg befinden, vorstellen. Einerseits irgendwie ähnlich, aber doch so verschieden: jeder mit seiner eigenen, persönlichen Lebensgeschichte, geprägt von seinem eigenen Kulturkreis mit eigenen Verhaltensregeln, Sitten und Gebräuchen. Ein Gesprächsstoff, dass nie ausgeht, gedolmetscht von Alena Trenina.

Nach dem Mittagessen wurden wir in den „Blauen Turm“ zu einem Empfang durch Tübingens Erste Bürgermeisterin, Frau Dr. Arbogast, eingeladen. Ihre Ansprache wurde von Alena Trenina gedolmetscht. Die Gäste bedankten sich bei Frau Dr. Arbogast mit kleinen Geschenken: die Poltawaer überreichten ihr eine Wickelpuppe – eine Kultfigur aus uralten Zeiten. Die Petrozavodsker einen Glücksvogel aus Holzplättchen.

Anschließend haben wir uns auf den Weg durch die Stadt Tübingen gemacht. Fred Binder, geschichtskundiges Mitglied der West-Ost-Gesellschaft, führte uns auf dem „Pfad der Erkenntnis“ zu Plätzen, die mit großen Namen verbunden und nicht nur für Tübinger bedeutsam sind: die Stiftskirche und die erste deutsche Universität mit Eberhard im Bart und seinem noch heute aktuellen Leitspruch „Attempto“, (Ich wage es), das Rathaus mit der astronomischen Uhr, die Johannes Stöffler, der Vater des heutigen gregorianischen Kalenders, konstruierte, Alois Alzheimer, der als erster die Demenz beschrieb – nur um einige zu nennen. In Tübingen wurde Hämoglobin und die DNA entdeckt, die erste Gasbeleuchtung für OP-Säle, der Bunsenbrenner und das Thermometer konstruiert. Diese liebevolle Stadtführung wurde von Alena Trenina gedolmetscht. Mit letzter Kraft schleppten wir uns zum Abendessen im „X“. Heute sind wir in die Unterkünfte mit dem Stadtbus gefahren.

Mittwoch, 16.09.2015

Nach dem Frühstück sind wir heute in den Schulungsräumen geblieben. Es gab eine zweite Vorstellungsrunde. Die TN aus Tübingen, Leinfelden-Echterdingen, Poltawa und Petrozavodsk haben sich gegenseitig vorgestellt. Der Seminarleiter nutzte diese Gelegenheit zum Einfangen von einigen Begriffen, die während der Vorstellung fielen. Wir analysierten unter anderem solche Worte wie Heimat, Familie, Kulturkreis.

Nach einer kurzen Kaffeepause erläuterte uns unser Seminarleiter am Beispiel des spanischen Bürgerkriegs, den wir alle aus dem Geschichtsunterricht kennen, die möglichen Parallelen zum Konflikt in der Ostukraine.

Nach dem Mittagessen fuhren die TN mit dem Stadtbus zum Carlo-Schmid-Gymnasium. Wir wurden dort von der Schulleiterin Hanna Sumski herzlich willkommen geheißen. Die ukrainischen TN haben sich auf die Vorstellung ihres Landes und ihrer Stadt sehr gut vorbereit. Es gab eine, mit schöner Musik untermalte Videopräsentation, drei TN haben die Sehenswürdigkeiten ihre Stadt in einem Vortrag auf Deutsch beschrieben. Ihre Heimatstadt ist durch die Poltawa-Schlacht 1709 weltbekannt (www.battle.poltava.ua), da sie die politische Entwicklung in Europa nachhaltig beeinflusst hat. Den musikalischen Teil eröffnete Bohdan mit dem wunderschönen ukrainischen Volkslied „Nitsch jaka missitschna“. Danach haben alle anwesenden das ukrainische Volkslied „Rosprahajte chloptzi koni“ gelernt. Dazu wurden zunächst die Texte mit deutscher Transkription, die Alena Trenina vorbereitete, ausgeteilt und die Aussprache trainiert. Der Bajanist Vladimir Trenin hat den lernwilligen „Sängern“ die Angst vor Singen genommen – mit dem Instrument zusammen haben sich alle getraut, das fremde Lied zu singen. Zum Schluss des gelungenen Nachmittags haben die Poltawaer einen Karawai (mit Teigblumen ausgeschmücktes Brot) auf einem gestickten „Rushnik“ (Tuch) der Schulleiterin, Frau Sumski, überreicht. Alle anderen bekamen Wickelpuppen mit einem Flyer auf Deutsch, der die Bedeutung der Kultfigur erläuterte. Dazu noch kleine Pralinen aus der Schokoladenfabrik des ukrainischen Präsidenten Poroschenko. Es hat viel Spaß gemacht, alle waren gut gelaunt und summten unterwegs zum Abendessen das neu gelernte Lied fröhlich vor sich hin.

Donnerstag, 17.09.

Nach dem Frühstück übernahm Matthäus Wehowski, ein Doktorand an der Uni Tübingen, der sich mit Geschichte und Politologie beschäftigt, die Seminarleitung. Er spricht Russisch, da er zwei Jahre in Moskau studierte. Wir besprachen die Rolle der Medien in den Nachrichten allgemein und speziell im Ostukraine-Konflikt. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass weder die ukrainischen, noch die russischen, noch die deutschen Medien fair über die Ereignisse berichten. Wir haben uns zwingen müssen, die Diskussion abzubrechen, da wir zum Mittagessen fahren sollten. Unterwegs wurde weiter diskutiert.

Nach dem Mittagessen sind wir wieder zum Carlo-Schmid-Gymnasium gefahren. Heute waren die Petrozavodsker TN dran, ihr Land und ihre Stadt vorzustellen und den Anwesenden ein russisches Lied beizubringen. Sie haben das Lied “My zhelaem shchastia wam“ gewählt. Auch hierzu hat Alena Trenina die deutsche Transkription vorbereit. Nach dem gemeinsamen Aussprache-Training, den Lilia Künstle übernommen hat, wurde mit Unterstützung des Bajanisten das Lied mit großer Freude gesungen. Die Petrozavodsker Gastgeber des heutigen Nachmittags schenkten der Schulrektorin einen besonderen Tee aus sieben karelischen Kräutern und ein Fotoalbum „Karelien“. Jeder TN bekam eine kleine russische Schokolade. Die Petrozavodkser TN haben noch zwei uralte gesellschaftliche Spiele vorgestellt und zusammen mit allen anderen gespielt. Gefordert waren vor allem Arme und Beine, so dass sich niemand wunderte, dass alle etwas erschöpft waren. Aber bevor man zum Abendessen fahren konnte, war noch ein deutsches Lied dran. Die TN aus Leinfelde-Echterdingen und Tübingen haben „Die Gedanken sind frei“ gewählt. Auch hier bekamen die willigen Sänger Unterstützung vom unserem Bajanisten. Nach der Aktion sind wir mit dem Stadtbus zur „Krummen Brücke“ gefahren, wo auf uns ein leckeres Abendessen wartete.

Freitag, 18.09.2015

Nach dem Frühstück hat uns unser Seminarleiter Michael Orth wieder auf die Neckarinsel geführt, diesmal ganz tief in die Platanenallee. Wir versammelten uns um das Denkmal für den Komponisten und Musikpädagogen Friedrich Silcher, der seinerzeit als erster Musikdirektor an der Uni Tübingen gewirkt hat. Das Denkmal, erbaut 1939-1941, hat drei Seiten: von vorne sieht man den sitzenden Komponisten, in seinen Rücken an der rechten Schulter ist ein junger Soldat mit Stahlhelm und Gewehr, auf der linken Schulter ein junges Paar, dass sich beim Abschied in den Armen liegt, am linken Schenkel ein nacktes Kleinkind mit einem Gewähr über die Schulter, eingearbeitet. Silchers Lieder, besonders das Lied „Ich hatt´ einen Kameraden“, haben die Nazis zu Propagandazwecken missbraucht

Während wir über den Heldentod fürs Vaterland diskutierten, stieß die Journalistin Leila vom „Schwäbischen Tagblatt“ zu uns und wollte wissen, was wir hier machen. Einige TN gaben kurze Interviews, die sie dann in der Montagsausgabe der Zeitung wieder gefunden haben.

Nach dem Mittagessen war die Sieben-Kilometer- Wanderung geplant. Die Route hat Lilia Künstle ausgearbeitet. Um 15.00 Uhr starteten am Büro der West-Ost-Gesellschaft 18 Teilnehmer des Projekts, Lilia Künstle und Marita Hengsbach-Elser mit ihrer Gitarre. Sie wollten mit dem Stadtbus Richtung Schlossberg fahren, um von dort aus den „Uhland Weg“ zu laufen. Der Busverkehr war jedoch wegen des Umbrisch-Provenzalischen Marktes eingeschränkt und so mussten sie erst einmal zu Fuß den Spitzberg erklimmen. Sie standen am Anfang einer langen Treppe, deren Ende irgendwo ganz weit oben lag. Der Weg führte hinauf  zum Tübinger Schloss. Am Bismarckturm vorbei über den Spitzberg wanderten sie auf dem Lieder-Weg Richtung Wurmlinger Kapelle. Vor den zehn aufgestellten Liedertafeln (die der Vorsitzende der West-Ost-Gesellschaft, Ernst-Moritz Friedrichs 2010 mit aufgebaut hat), machten sie jeweils einen kurzen Halt  und die deutschen Teilnehmer lasen die Gedichte vor. Die Gitarre wurde ausgepackt und das jeweilige Lied gesungen. Am Fuß der Wurmlinger Kapelle erklang selbstverständlich das Lied „Droben steht die Kapelle“. Die erschöpften Wanderer sanken am Grillplatz nieder, der Aufstieg zu Wurmlinger Kapelle war über ihre Kräfte. So aßen sie die mitgebrachten belegten Brötchen und Lilia Künstle erzählte alles Wissenswerte über die Kapelle. Leider war aus dem geplanten Grillen nichts geworden – der Boden war vom Dauerregen durchweicht. Nach insgesamt 7 km Wanderweg fuhren sie hungrig mit dem Bus von Hirschau nach Tübingen. Als Abendessen war ursprünglich Selbstgegrilltes geplant. Da uns das Wetter Strich durch die Rechnung machte, musste man improvisieren. Jeder TN hat 15 € in die Hand gedrückt bekommen, um sich das Abendessen „auf eigene Faust“ zu besorgen. Der Umbrisch-provenzalischer-Markt hat viel zu bieten gehabt, alle sind satt geworden.

Samstag, 19.09.2015

Nach dem Frühstück fuhren die „Tübinger“ mit dem Zug, die Leinfelder-Echterdinger mit der S-Bahn nach Stuttgart. Unterwegs vom Hauptbahnhof zum „Haus der Geschichte“ hat man die ersten Blicke auf das Opern- und Ballettheater, den Landtag und die Staatsgalerie werfen können. Im Haus der Geschichte bekamen die Besucher elektronische Führer zur Verfügung, so dass jeder nach seinem eigenen Tempo die Exponate anschauen konnte. Nach dem Museumsbesuch haben uns unterwegs zum Mittagessen Lilia Künstle und Alena Trenina Interessantes über Stuttgart und das Land Baden-Württemberg erzählt. Nach dem Mittagessen in einem urschwäbischen Restaurant versammelten wir uns am Schiller-Denkmal, wo wir eine kurze Information über das politische System Deutschlands bekamen. Danach war Shopping angesagt. Es war schwer, sich von Stuttgart zu lösen. Wir haben mit großer Not den vorgesehenen Zug nach Tübingen gerade noch erreicht. Die Leinfelder-Echterdinger sind mit nach Tübingen gekommen, um mit ihren ukrainischen, russischen und Tübinger Freunden den Samstagabend gemeinsam zu verbringen.

 Sonntag, 20.09.2015

Nach einem Sonntags-Frühstück zur späteren Stunde sind wir mit dem Stadtbus zum Tübingens Botanischem Garten gefahren. Um 11 Uhr begann dort die Führung zu zwei karelischen Birken. Petrozavodsk ist die Hauptstad Kareliens – die Birken passten gut zum Projekt. Mitglied der West-Ost-Gesellschaft, Angela Reik, erzähle ihre persönliche Geschichte darüber, wie die Birken nach Tübingen kamen. Die Führung durch den Botanischen Garten übernahm ein weiteres Mitglied der WOG, Tatjana Fessler.

Nach dem Mittagessen im „Herzog Ulrich“ gingen wir in die Historische Druckerei, in der uns Hans Bösl erwartete. Ein nimmermüder Achtzigjähriger zeigte uns die Kästchen mit den Buchstaben und den Bild-Klischees. Wir dürften, unter seiner Anleitung, unser Plakat herstellen. Es war aufregend und schwierig zugleich, denn wir sollten ein gemeinsames Poster, das einen Bezug zum Projekt aufweist, kreieren. Nach langem hin und her wurden wir uns einig: ganz sicher sollten ein Bild von Tübingen und das Graf-Eberhard-in-Bart-Leitmotiv, die Attempto-Palme, aufs Poster. Das Leitmotiv „Ich wage es“ fanden im Hinblick auf unser Projekt alle genau richtig. Ja, wir wagen es! Wir wollen Frieden! Wir sind keine Feinde! Wir bleiben Freunde! Daher haben wir das Motto mit unseren Namen unterschrieben. Das ist das Ergebnis, das wir am Abschlussabend präsentieren wollen. Der Vorschlag kam in die Druckmaschine, die per Hand bedient wurde. Man brauchte viel Kraft dazu, die Mädchen wollten trotzdem auch selbst an der Kurbel drehen. Jeder Teilnehmer bekam ein Exemplar zum Mitnehmen, außerdem wurden noch Präsentationsexemplare hergestellt. Nach dem es so gut geklappt hat, wollte jeder für sich ein Plakat mit individuellen Motiven drucken. Hans Bösl half und beriet, wo es nur ging, auch bei ausgefallenen Ideen. Die Zeit lief uns davon, das Abendessen nahte. Damit aber auch wirklich jeder sein individuelles Plakat herstellen kann, sind zwei TN noch in der Druckerei geblieben, um zu Ende zu drucken, während die Gruppe schon Richtung Restaurant fuhr. Das Abendessen bekamen wir in der „Alten Kunst“, die gleich neben dem Gemeindezentrum Lamm liegt. So konnten wir uns den Raum anschauen, in dem an Dienstag die Abschiedsveranstaltung stattfinden wird und uns schon überlegen, wie wir ihn gestalten.

Montag, 21.09.2015

Nach dem Frühstück setzten wir uns in den Bus, der uns nach Straßburg bringen sollte. Wir starteten mit einem herzlichen Gruß von der Leitung der Stadtwerke Tübingen und der Mitteilung, dass wir die Fahrt kostenlos genießen dürfen! Unser Hauptziel heute war der Europarat, wo wir um 14 Uhr zu einer Führung erwartet wurden. Um 11 Uhr erreichten wir den Busparkplatz am Rande der Stadt und gingen von dort etwa 15 Minuten zu Fuß in die Stadtmitte. Was wir sahen, war überwältigend: die Straßburger Kathedrale und die historischen Gebäude drum herum badeten im Sonnenlicht und verströmten den Geist der alten Zeit. Und dann kam die Überraschung – wir stiegen in einen kleinen Zug auf Rädern und machten eine Rundfahrt durch die Altstadt und das Stadtviertel Petit France. Zu jedem Sitzplatz gehörte ein Kopfhörer, über den wir Erklärungen in sechs verschieden Sprachen, darunter auch Russisch, hören könnten. Nach der Rundfahrt waren wir schon sehr neugierig, was uns im Europarat erwartet. Wir fuhren mit dem Stadtbus hin, da die Besucherbusse nicht in die Stadt rein dürfen. Nach einer Sicherheitskontrolle, die der am Flughafen ähnelte, bekamen wir Besucheranhänger und dürften den Eingang passieren. Zunächst wurden wir in den „Blauen Salon“ geführt. So heißt eine der Kantinen im Europarat. Das Mittagessen war köstlich. Dort wurden wir von einer Mitarbeiterin des Besucherdienstes abgeholt und durch das große Gebäude geführt, bis wir auf der Empore des Sitzungssaales angelangt sind. Alle haben den Raum sofort erkannt, obwohl vor dem heutigen Tag die TN noch nie im Leben in Straßburg waren. Selfies wurden eifrig geknipst. Nachdem wir einen Film in englischer Sprache über die Aufgaben des Europarates angeguckt haben, kam ein weiterer Mitarbeiter des Besucherdienstes und führte uns in einen Sitzungsaal. Mit ihm haben wir auf Englisch über die Menschenrechte diskutiert.

Der Besuch im Europarat hat drei Stunden gedauert. Wir machten noch schnell einige Fotos vor den Länderfahnen und fuhren zurück in die Altstadt. Es blieb uns noch genau eine Stunde, um uns individuell umzusehen. Viel zu wenig! Schweren Herzens gingen wir zum Busparkplatz und traten die Rückfahrt an. Auf einem Rastplatz bekamen wir von Lilia Künstle ein Picknick serviert. Sie schnippelte Gemüse, schnitt Brot, verteilte Wurst, Käse und Eier. Sie hatte viel zu tun, wir waren immerhin zu 25. Sie vergaß, sich selbst etwas auf den Teller zu legen und kam zu kurz. Sie hat es mit Humor zur Kenntnis genommen. Als Wiedergutmachung übernahmen die Jugendlichen die kompletten Abräumarbeiten. Es fiel ihnen nicht schwer – der tägliche Abräumdienst hat Früchte getragen. Da man nicht voraussagen konnte, wann wir nach Tübingen zurückkommen, wurde kein Essen bestellt. Auch heute müssten sich die TN ihr Abendessen „auf eigene Faust“ besorgen.

Dienstag, 22.09.2015

Nach dem Frühstück sind die in Tübingen wohnenden TN mit dem Bus nach Leinfelden gefahren. Sie wurden von ihren Freunden aus LE an der Bushaltestelle abgeholt, gemeinsam gingen sie ins Rathaus, wo sie vom Oberbürgermeister Roland Klenk empfangen wurden. Herr Klenk stellte seine Stadt vor, erzähle Interessantes über den Wirtschaftsstandort Leinfelden-Echterdingen, die Messe und den Flughafen, die für die Stadt gute Steuerzahler sind. In der Frage-und-Antwort-Runde wurden verschiedene Themen angesprochen. Die Besucher interessierten sich für die Probleme, die mit der Aufnahme der Flüchtlinge zusammen hängen. Es entfachte sich eine lebendige Diskussion, die allen Spaß gemacht hat. Herr Klenk hat uns eine ganze Stunde seiner Zeit geschenkt, da ihm, wie er sagte, die Jugendbegegnungen am wichtigsten sind. Er wünschte uns eine glückliche Zukunft ohne Krieg und sprach die Hoffnung aus, dass wir, die Projektteilnehmer, weiter im Kontakt bleiben. Dies haben wir ihm zugesichert. Wir haben ihm verraten, dass wir uns noch in diesem Jahr in Russland, oder in der Ukraine treffen wollen.

Nach dem Empfang sind wir nach Tübingen aufgebrochen. Unterwegs machten wir in Waldenbuch Halt und aßen zu Mittag in der Museumskantine der dortigen Schokoladenfabrik Ritter Sport. In der Vielfalt des Schokoladenshops verloren wir schnell die Orientierung und unser letztes Geld.

Wir fuhren weiten nach Tübingen. Vor uns lag noch unsere letzte Aufgabe – die Präsentation der Projektergebnisse. Wir waren ganz schön aufgeregt. Wir bekamen 1 Stunde Zeit für die Vorbereitung. Der Moderator des Abends, Matthäus Wehowski, hat uns die Thesen gegeben, zu den wir uns Gedanken machen sollen und diese in der anschließenden Diskussion entweder bestätigen, oder widerlegen. Wir haben zwei gemischte Gruppen gebildet, d. h. in jeder Gruppe waren ukrainische, russische und deutsche Jugendliche vertreten. Das Publikum trudelte langsam in das Gemeindezentrum Lamm im Herzen von Tübingen. Es waren überwiegend Mitglieder der West-Ost-Gesellschaft, Freunde und Verwandte der deutschen Teilnehmer und Studenten der Uni Tübingen. Die Thesen wurden öffentlich verkündet. Jede Gruppe bekam die Möglichkeit, ihren Standpunkt zu erläutern. Das Publikum dürfte mit diskutieren. Die Debatte wurde zu einem Streitgespräch. Dies hat unseren Seminarleiter Michal Orth dermaßen enttäuscht, dass er den Saal demonstrativ verlassen hat. Er hat uns die ganze Zeit dazu geführt, die Ansichten ohne Streitelemente zu debattieren, und jetzt das! Nun ja, wir haben gelernt, dass jeder seine Meinung vertreten kann und machten daher in der Diskussion weiter. Auch wenn es anfänglich nach einem Streit aussah, war es doch keiner – beide Gruppen haben im Abschluss-Plädoyer dasselbe erklärt: Wir sind keine Feinde! Wir sind Freunde und werden es bleiben! Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit und wollen gemeinsam unsere Zukunft gestalten!

Die drei Teilnehmerinnen vom Immanuel-Kant-Gymnasium in Leinfelden-Echterdingen haben für die Abschlussveranstaltung eine schöne Überraschung vorbereitet: selbstgebackene Muffins, eingewickelt in einer Folie, mit einem Wunsch für die Zukunft in englischer Sprache speziell für jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer am Projekt.

Das anschließende Abendessen in Form von mehreren Familienpizzas wurde gemeinsam mit einigen Zuhörern verzehrt, die nicht nach Hause, sondern sich mit uns noch weiter unterhalten wollten.

Wir wussten, dass wir am nächsten Tag die Rückreise in die Heimat sehr früh antreten müssen, trotzdem diskutierten wir weiter. Mit dem letzten Stadtbus fuhren wir zu den Unterkünften und packten unsere Koffer.

Schade nur, dass die Vertreter der Medien, die sich ursprünglich für diesen Abend angekündigt haben, nicht gekommen sind. Die Berichte zur Situation in der Ostukraine haben keine Priorität mehr. Seit 1. September war die Lage dort sowieso befriedet und keine Brisanz mehr gehabt. Das alles beherrschende Thema in Deutschland sind die riesigen Flüchtlingsströme geworden.

Mittwoch, 23.09.2015

Die Gruppe aus Poltawa startete als erste los. Um 7.30 Uhr brachte sie der Airportsprinter von Tübingen zum Flughafen Stuttgart, wo uns Alena Trenina mit Butterbretzeln in einer Tüte erwartete. Da wir so früh weg fahren müssten, haben wir noch nicht gefrühstückt. Wir haben nur noch Kaffee bestellt und die mitgebrachten Brezeln gegessen. Alena Trenina wusste, dass Poltawa heute den Tag der Stadt feiert, gratulierte und überreichte uns kleine Pins der deutsch-ukrainischen Freundschaft. Vor dem einchecken hat Bohdan gemerkt, dass er seinen Reisepass in der Unterkunft in Tübingen liegen gelassen hat. Panik! Nun wurde rumtelefoniert. Der Ehemann von Alena Trenina war der einzige, der an diesem Morgen frei war. Er fuhr von Leinfelden-Echterdingen nach Tübingen und zurück (80 km) in kürzester Zeit (J) und überreichte dem verzweifelten Bohdan kurz vor dem Schließen der Gate seinen Pass. Es ist alles gut gegangen, die Gäste aus Poltawa machten noch schnell ein Abschiedsfoto und verschwanden rasch hinter den Absperrungen, ohne Zeit zum Tränen vergießen zu haben.

Zwei Stunden später kamen auch die Petrozavodsker Teilnehmer, begleitet von Lilia Künstle, am Flughafen Stuttgart an. Sie haben in Tübingen bereits gefrühstückt, so dass sie gleich einchecken konnten. Mit traurigen Gesichtern schritten sie zur Sicherheitskontrolle. Wir verabschiedeten uns mit von Tränen glänzenden Augen. Schön war es. Danke für alles.

Alena Trenina

Leinfelden-Echterdingen, am 29.10.2015