Nachruf

Dietrich Rolbetzki

25.4.1942 – 16.3.2020

Oberstudienrat a.D.

Auf einer Wanderung im Nordschwarzwald, im Sommer vor 10 Jahren, lernte ich Dietrich Rolbetzki von einer Seite kennen, die mir in über 30 Jahren als Fachkollegen für Deutsch und Geschichte am Immanuel-Kant-Gymnasium verborgen geblieben war. Wir hatten uns zuviel vorgenommen, und obwohl ich zu bremsen versuchte, marschierte er unverdrossen vorneweg. Wir kürzten schließlich doch ab und landeten mit schmerzenden Füßen in einem Gartenlokal in Bad Liebenzell. Er war, wie fast immer, glänzender Laune, erst viel später erfuhr ich, dass er tagelang mit schweren Herzproblemen kämpfte. Zwei schwere Herzoperationen hatten ihn schon während seiner aktiven Zeit als Lehrer monatelang ans Krankenbett gefesselt und die daraus resultierenden körperlichen Beeinträchtigungen gestand er sich selbst nur ungern ein.

Was er sich vorgenommen hatte, führte er zu Ende, auch wenn er dabei an seine physischen Grenzen kam oder sie sogar überschritt. Und er hatte sich viel vorgenommen, nicht nur als Deutsch- und Geschichtslehrer, der am Immanuel-Kant-Gymnasium von Anfang an dabei war und es als einer der imposantesten Kollegen prägte, bis wir ihn 2006 in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedeten. Es war nicht nur der tägliche Unterricht, den er als “Doc Didi“ im ersten Jahrbuch des Kant-Gymnasiums 1985 im „Protokoll einer Schulstunde“ karikierte: „Während er langsam die Treppe heruntergeht, von dem geschubst, von jenem missachtet, überlegt er noch einmal, womit er gerade sein Geld verdient hat: mit Disziplinieren, Erlauben, Verbieten, Ermahnen, Drohen – und ein wenig Unterricht. Er hat auch – unmerklich geht ein kleiner Ruck durch seine Figur – etwas beigebracht. Hat er? Aber da ist er sich dann doch wieder nicht so sicher.“

Es waren auch die unzähligen zusätzlichen, kräftezehrenden, Lehreraktivitäten, die in einer schulkritischen Öffentlichkeit gerne übersehen werden: Theater-AG, Schullandheime, Studienfahrten, die Tätigkeit am Stuttgarter Abendgymnasium; viele Jahre lang betreute er die Schulpartnerschaft mit dem ukrainischen Poltawa.

Unvergessen bei allen Beteiligten bleibt die Aufführung der „Kantiana“ im Jahr 2000 anlässlich der Verabschiedung des ersten Schulleiters Dr. Kehr und die veränderte und erweiterte Neufassung 2005. Ein Theaterstück, auf den Spuren Immanuel Kants, das Dietrich Rolbetzki zusammen mit seinem Kollegen Werner Ott und dem Stuttgarter Regisseur Karl Haeser verfasste und inszenierte, realisiert vom gesamten Lehrerkollegium.

Aber auch außerhalb der Schule hinterließ er bleibende Spuren. Viele Jahre lang saß er im Beirat der Landeszentrale für politische Bildung und redigierte die Heftreihen „Die deutsche Frage im Unterricht“ und „Deutschland und Europa“. In den letzten Jahren, längst im Ruhestand, veranstaltete er in Stuttgart historische Stadtführungen, auch als es ihm zunehmend schwer fiel, 2016/17 noch für die italienischen Austauschschüler aus Voghera am Kant-Gymnasium.

Als ich im letzten November im Lichthof der Tübinger Hautklinik mit ihm zusammensaß, war er schon schwer von seiner Krankheit gezeichnet. Wir sprachen nur kurz darüber, er wusste, wie es um ihn stand. Besonders litt er darunter, dass er nur noch wenige Schritte gehen konnte, auf stetige Hilfe angewiesen war. Dennoch gab er nicht auf und dank der aufopfernden Pflege seiner Frau blieb er bis zuletzt geistig aktiv, nahm teil am aktuellen Zeitgeschehen. Die quälenden Stunden der mehrmaligen wöchentlichen Dialyse nutzte er zur Lektüre des „Spiegel“.

In Zeiten der Corona-Krise, die unseren gewohnten Alltag auf den Kopf stellt, die nicht einmal zulässt, ihm die letzte Ehre zu erweisen, wären ihm bestimmt als erstes jene jungen Florentiner eingefallen, die sich auf der Flucht vor dem Schwarzen Tod auf ein Landgut zurückziehen und sich dort Geschichten erzählen. Denn das konnte er, Geschichten und Anekdoten erzählen wie kein anderer, zu jeder Lebenslage, gewürzt mit sarkastischem Humor. Nicht nur ehemalige Kollegen erinnern sich an die unterhaltsamen Pausengespräche an der Kaffeetheke im Lehrerzimmer, auch viele ehemalige Schülerinnen und Schüler, die längst gestandene Erwachsene sind, werden sich an manche Schulstunde „Doc Didis“ erinnern. Die einst geäußerten Selbstzweifel, ob er ihnen auch etwas beigebracht habe, kann man getrost beiseite räumen. Das wusste er längst. In unserem letzten Gespräch erzählte er mir, wie sehr es ihn berührt hatte, dass ein junger Film- und Theaterregisseur, dessen Inszenierung er besuchte, von der Bühne herunter erwähnte, dass sein früherer Deutschlehrer im Publikum sitze.

Wegen der derzeitigen Krisensituation ist die Urnenbestattung auf unbestimmte Zeit verschoben. Geplant ist ein Gedenkgottesdienst, wenn wir zur „Normalität“ zurückkehren können. In Boccaccios „Decamerone“ kehrten die jungen Edelleute schon nach 14 Tagen nach Florenz zurück und „gingen ihren übrigen Geschäften nach“. Darauf dürfen wir wohl nicht hoffen.

Martin Kramer